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Schließlich ist von der politischen und sozialen Dimension in Bethkes Wirken und Schaffen zu reden. "Politisch" - damit ist natürlich nicht Parteipolitik, schon gar nicht politische Propaganda oder gar Ideologie oder Agitprop gemeint, sondern gemeint ist die Auswirkung seiner Musik bis in den politischen Bereich hinein, das bis in den politischen Bereich hinein reichende Engagement des Musikers und des Komponisten Neithard Bethke. Schon lange vor der Wiedervereinigung pflegte er engen Kontakt zur damaligen DDR und zu anderen Ländern des Ostblocks, zu Polen und Russland. Bei aller entschiedenen Ablehnung diktatorischer Systeme suchte Bethke durch seine musikalische Tätigkeit Kontakte zu den Menschen in jenen Bereichen durch Gastkonzerte mit seinem Chor in Ostdeutschland und in Polen, durch Dirigententätigkeit in Warschau und in anderen Städten des Ostens... In der ihm eigenen Unerschrockenheit und Direktheit machte er keinen Hehl aus seiner Kritik an der Diktatur und geriet einige Male in schwierige Situationen, die nur durch das Eingreifen diplomatischer Vertretungen der Bundesrepublik abgewendet werden konnten. Er nahm es Ernst, dass der Ratzeburger Dom zur Mecklenburgischen Landeskirche gehört, und pflegte engen Kontakt zu Schwerin. Und als Mauer und Stacheldrahtzaun sich öffneten und die Grenze durchlässig wurde, brauchte der Kontakt "nach drüben" nicht erst hergestellt zu werden, er war bereits vorhanden und musste nur intensiviert werden. Im ersten Konzert nach Öffnung der Grenzen waren Mitglieder des Schweriner Domchors zu Gast in Ratzeburg, bald darauf kam es zu einer gemeinsamen Aufführung des Messias, dessen "Halleluja" wohl niemand mit so innerer Bewegung gesungen, gehört und erlebt hat wie bei dieser ersten gemeinsamen Aufführung unmittelbar nach der Aufhebung der Grenze. Von da an wurden der Austausch und das gemeinsame Wirken von Dirigenten, Organisten und der Chöre von Ratzeburg und Schwerin, von Ratzeburg und Olsztyn/Allenstein zur Regel. Russische und polnische Orchester pflegten regelmäßig im Ratzeburger Dom unter Bethkes Leitung aufzutreten. Dieses gemeinsame Wirken auf kulturellem und künstlerischem Gebiet, die menschlichen Kontakte und Freundschaften, die sich daraus ergeben, tragen ganz entscheidend dazu bei, ein Klima des Vertrauens zu schaffen, Grenzen zu überwinden, Frieden zu stiften, die "Mauer in den Köpfen" abzubauen, Vorurteile auszuräumen, Brücken zu bauen.
Dieser Beitrag zur Völkerverständigung, zur Versöhnung findet auch Niederschlag, im kompositorischen Schaffen Neithard Bethkes. Seine Sinfonie zur Wiedervereinigung umfasst wiederum verschiedene Grundelemente: Da pacem ("Gib Frieden") - die Trompetenfanfare der Marienkirche in Krakau - den Choral "Verleih uns Frieden" und den von Bethke vertonten, Franz von Assisi zugeschriebenen Text: "Mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens". Schon diese Inhalte machen deutlich, welchen Akzent Bethke der Wiedervereinigung gibt: kein Triumphalismus, kein nationalistisches, selbstüberhebliches Pathos - sondern Bitte um Frieden ist der Grundtenor und der einzige Inhalt dieser Symphonie.
Auch Bethkes "Große Messe", die anlässlich der Renovierung des Domes zu Königsberg/Kaliningrad komponiert wurde und demnächst uraufgeführt werden soll, vereint wieder die verschiedensten Elemente. Sie bezieht das Originalglockengeläut des alten Königsberger Domes auf Tonband ein, integriert Texte der lateinischen Liturgie und bietet Bethkes Vertonungen in Ostpreußen beheimateter russischer und deutscher Dichter. Versöhnung ist der Grundtenor dieses Werkes. Das alte Glockengeläut erinnert an die Geschichte, an unwiederbringliche Vergangenheit, an schmerzlichen Verlust. Der Text der Messe ist das liturgische Kontinuum, gemeinsame gottesdienstliche Praxis. Die Vertonung von Texten russischer und deutscher Dichter, die aus einem Gebiet stammen, das den einen die neue Heimat, den anderen die alte und verlorene Heimat ist, bekundet Versöhnung, Verständigung, friedvolles Miteinander.
Bethkes Engagement auf sozialem Gebiet findet auch Ausdruck in seiner Tätigkeit bei der Freiwilligen Feuerwehr in Ratzeburg, deren Einsatzleiter er ist. Neithard Bethke, der Dirigent des Ratzeburger Domchores ist zugleich der "Dirigent" der Feuerwehr. Vielen Menschen hat er dabei das Leben gerettet und wurde auch hierfür vom Bundespräsidenten mit dem Verdienstkreuz am Band ausgezeichnet. Bethkes unbedingter Einsatz auf beiden Gebieten, der Musik wie der Feuerwehr, ohne Rücksicht auf sich selbst, sein Einsatz bis zum letzten, überschnitten sich im Jahre 1975, als Waldbrände in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen wüteten. Bei seinem totalen Einsatz zog sich Neithard in der Lüneburger Heide schwere Verletzungen zu. Der rechte Arm musste in Gips gelegt werden. Und am kommenden Sonntag stand ein Konzert auf dem Programm, das er nicht absagen wollte und konnte. Trotz dringender Warnungen des Arztes bestand Bethke darauf, dass ihm der Arzt für die Dauer des Konzertes den Gipsverband abnahm und ihm eine schmerzstillende Spritze gab. Das Konzert war gerettet, indem Bethke das Risiko der Gefährdung seiner Gesundheit auf sich nahm.
Zur Vielfalt und Originalität Bethkes gehört auch sein Hobby - er ist Pilot. Einmal kam das Hobby der Kunst zu Hilfe. Als eine Konzerttournee in Australien durch einen Pilotenstreik gefährdet war, mietete sich Bethke kurzerhand ein Flugzeug, das er selbst von Station zu Station seiner Konzertreise steuerte.
Nur andeutungsweise kann erwähnt werden, dass Neithard Bethke durch sein künstlerisches Wirken schon lange, bevor es ein Schleswig-Holsteinisches Musikfestival gab, einen ganz entscheidenden Beitrag zur Kulturlandschaft Schleswig-Holstein leistete und noch immer leistet.
Als Abschluss soll wieder ein Goethe-Zitat stehen:
"Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst"
Der Künstler braucht für sein Wirken zeitweilig Einsamkeit, Stille, Rückzug von der Welt, Konzentration ganz auf die Kunst. Aber dann wird er von der Kunst und durch die Kunst wieder zur Welt zurückgeführt, die sich ihm ganz neu erschließt. Bei aller Konzentration auf seine Kunst ist Neithard Bethke nicht weltfern oder weltflüchtig geworden, sondern weltzugewandt geblieben. Gerade seine Konzentration auf die Kunst führte ihn zum Engagement in verschiedenen Bereichen der Welt. Es bleibt für alle, so für Institutionen, Hörer, Musizierende, für die Kulturlandschaften, nicht nur Schleswig-Holsteins, sondern Deutschlands und darüber hinausgreifend Europas, zu wünschen übrig, dass weiterhin Neithard Bethke in seinem unbändigen Schaffensdrang die hiermit kurz skizzierte, künstlerische Arbeit fortsetzen möge!
Martin Metzger Prof. emem für Altes Testament und Biblische Archäologie an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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