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Vielfalt und weite Fächerung - das gilt auch im Bezug auf Neithard Bethkes kompositorische Tätigkeit, die Gattungen und Inhalte seiner Kompositionen. Zu den bislang 77 von ihm geschaffenen Werken gehören 30 Werke für Orgel, 1 Messe, 3 Oratorien, 8 Motetten, 12 Kantaten, 12 andere Chorwerke, 4 Liederzyklen, 3 humorvolle weltliche Chorwerke, 1 Sinfonie, 6 andere Werke für Orchester.
Er vertonte Texte verschiedener Autoren: Jochen Klepper, Dietrich Bonhoeffer, Hilde Domin, Uwe Steffen, chinesische Lyrik, Erwin Lüddecke, Eva Zeller. Seine Vertonungen zeichnen sich oft durch originelle Instrumentierung aus, so z.B. Klarinette, Harfe und Altstimme.
Für Bethkes Kompositionen gilt, was Goethe über die Kunst generell sagt: "Das müsste gar eine schlechte Kunst sein, die sich auf einmal fassen ließe, deren Letztes von dem gleich geschaut werden könnte, der zuerst hereintritt"
In der Tat - die Kompositionen Bethkes erschließen sich nicht immer beim ersten Zuhören. Man muss sich hineinhören, sie öfter hören, in sie - um bei dem Bilde Goethes zu bleiben - hereintreten wie in einen Raum, und dann fangen sie an zu sprechen.
Als besonders ausdrucksstark habe ich Bethkes Oratorientrilogie in Erinnerung, Oratorien zum Totensonntag, zu Weihnachten, zu Passion und Ostern. In ihnen sind vier verschiedene textliche und musikalische, einander ergänzende und einander interpretierende Gattungen zu einem neuen Ganzen verwoben.
Texte und Sequenzen aus der Gregorianik als überzeitliches musikalisches Element, Bibeltexte, von Neithard Bethke vertont (zu Weihnachten das Weihnachtsevangelium, zu Passion und Ostern Passionstexte der Evangelien), verbunden mit anderen Bibeltexten, die ein neues Licht auf die Kernaussagen werfen, gesungen vom Chor und von Solisten, der Kinderchor mit einem geistlichen Volkslied, und schließlich wird die Gemeinde mit einem Choral einbezogen. Indem Bekanntes und Unbekanntes, Altes und Neues zusammen erklingen, wird man in das Geschehen hineingekommen, erschließt sich die Musik von innen her.
Das sei verdeutlicht am Oratorium zum Totensonntag, das bei mir einen ganz besonders tiefen Eindruck hinterlassen hat. Am Anfang steht das gregorianische "Media vita in morte sumus", "Mitten im Leben stehen wir im Tod". Wie das Anschlagen einer Totenglocke kehren dieser Text und diese eindringliche Melodie jeweils zu Beginn eines neuen Sinnabschnittes ständig wieder. Der fortlaufende, von Bethke vertonte Bibeltext dieses Oratoriums ist Psalm 90, der wie kein anderer von der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Menschen spricht. Als Kontrast und Interpretamént sind neutestamentliche Texte eingefügt, die von Hoffnung, Trost und Überwindung des Todes sprechen: "Ich bin die Auferstehung und das Leben...", "Ich bin der Erste, ich bin der Letzte und Lebendige" u.a. Von Vergänglichkeit und Tod spricht auch das geistliche Volkslied, das der Kinderchor singt: "Es ist ein Schnitter, der heißt Tod," mit dem Kehrvers "Hüt' dich, schöns Blümelein!" Der Choral, der von Gemeinde, Chor und Solisten gemeinsam gesungen wird, greift auf den Gregorianischen Choral zurück: "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen." Durch Einbeziehen der Zuhörer wird der Konzertbesucher vom passiven Rezipienten zum aktiv Beteiligten, zum Mitwirkenden, wird das Auditorium zur Gemeinde. Plötzlich ist es nicht mehr das Konzert der Berufsmusiker sondern es ist unser Konzert - mehr noch: aus dem Konzert wird ein Gottesdienst. Man fühlt sich mit einbezogen in das Gesamtgeschehen, wenn Chor, Solisten und Auditorium gemeinsam singen, Fachmusiker und Laien, Kinder und Erwachsene, "Alte mit den Jungen". Es ist überwältigend, wenn zum Schluss der Text des gregorianischen Gesanges ins Gegenteil verkehrt wird und in dreifacher Wiederholung statt "Media vita in morte samus" - "Media morte in vita samus", "Mitten im Tode sind wir vom Leben umfangen!" erklingt, verwoben mit der letzten Strophe des ins Positive gewendeten Liedes vom Schnitter Tod, dessen Kehrvers nunmehr lautet: "Freu dich, schöns Blümelein", der ebenfalls wiederholt wird. Ganz verhalten und darum besonders eindrucksvoll klingt das Oratorium aus mit der Vergewisserung durch die Solisten: "...in vita samus!" und mit dem "Amen" aller Beteiligten. Das Oratorium ist eine beachtliche theologische Leistung. Durch die Kombination verschiedener Text- und Musikgattungen werden die verschiedenen inhaltlichen Aspekte beleuchtet, werden die Vertonungen Neithard Bethkes mit Gregorianik, Choral und geistlichem Volkslied zu einem neuen Ganzen verwoben. Nie hat mich eine Vertonung eines modernen Autors so im tiefsten Inneren angesprochen, wie es bei diesem Oratorium der Fall war und ist.
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